Freie Lehre oder freie Berufswahl – Vom Wertewandel in Bildung und Gesellschaft
Ein Wertewandel geht um an Deutschlands Universitäten. Nichts neues, doch in der letzten Zeit melden sich zunehmend auch Professoren, Dozenten und Doktoranden öffentlich zu Wort und beklagen das schwindende Ansehen der Bildung. Von “Event-Uni” und Bildung auf Pump ist da die Rede. Die Universität verkomme zur Verwaltungsanstalt für zukünftige Funktionsträger. Doch lassen sich diese Veränderungen nur im Hinblick auf einen gesamtgesellschaftlichen Wertewandel beschreiben, und die Frage, welchen Wert die Gesellschaft der Bildung überhaupt noch gibt.
Gehen wir also ein gutes Jahrhundert zurück, in eine Zeit, in der das Bildungsbürgertum noch den Wertemaßstab gesellschaftlichen Ansehens stolz vor der Brust trug. Bildung gehörte zum wesentlichen Bestandteil eines gelungenen Lebens und verlieh den aufgeklärten Gesellschaften Europas hohes Ansehen. Doch Kriege und neue Wohlstandsversprechen der aufkeimenden industriellen Wettbewerbsgesellschaft unterminierten den generellen Wert an Bildung bis an den oberen Rand der bürgerlichen Klasse. Bürgerlichkeit richtete sich nun nicht mehr auf ein breites Allgemeinwissen, sondern auf Tugenden der Repräsentation, gut organisierte Hauswirtschaft und häusliche Ästhetik. Der Ende der 60er Jahre geforderte “Aufstieg durch Bildung” versprach zwar zunächst eine Demokratisierung des Bildungssystems, jedoch führte er letztlich durch den erhöhten Zulauf auf Gymnasien und Universitäten insbesondere zu einer allgemeinen Qualitätsminderung der Lehre. Der Bologna-Prozess führte schließlich nur die bereits in der Gesellschaft bestehende mentale Haltung gegenüber der Bildung in einen gesetzliche legitimierten Zustand über, indem jedem der bestmögliche Zugang gewährt werden sollte und die Employability gefördert, sprich Bildung und Ausbildung zu einem Ganzen an den Markt gekoppelt wurden. Bologna versprach somit der riesigen Zahl an Studierenden keine angemessene Betreuung mehr, sondern organisierte sie nunmehr ganz offiziell als Zahl im Verwaltungsakt der Universitäten.
Die Entwicklungen im Bildungssystem gingen dabei stets Hand in Hand mit der globalen Liberalisierung, die seit den 80er Jahren in Deutschland konstant ansteigt. Dieser Trend hat auch vor den Universitäten nicht halt gemacht. Seitdem sind vor allem Manager und Funktionsträger die angestrebten Zielposten einer universitären Ausbildung. Die Rationalisierung und Effizienzsteigerung des Lebenslauf heutiger Jungakademiker kollidieren dabei nicht selten mit den Vorstellungen alter Werte, die vor allem Selbstständigkeit im Denken und die Entwicklung eines freien Geistes forderten und deren Erkenntnisreichtum ja schließlich immer noch essentieller Bestandteil in der geisteswissenschaftlichen Lehre ist. Ganz nach dem Motto: “Lies und verstehe Kant, aber übertrage seine Lehre nicht auf dein Leben, das lohnt sich heute nicht mehr”.
Jede Gesellschaft hat das Bildungssystem, das sie verdient
Das selbstständige Denken wird zwar in Ausschreibungen immer noch gefordert, doch hat diese Selbstständigkeit ihre Grenzen sobald sie die Funktionstüchtigkeit gefährdet. Der freie Geist entfernt sich damit immer weiter von der akademischen Ausbildung. Auf eine Stelle in der Forschung kommen heute 1,28 Stellen in der Verwaltung. Studenten erwarten heute insbesondere das Erlernen von Fertigkeiten für ihre spätere Tätigkeit. In diesem Sinne wird sich zwar öffentlich über diesen Wertewandel beschwert, doch dagegen getan wird kaum etwas, um den Zugang zu Universität nicht wieder zu erschweren und den Arbeitsmarkt flexibel und effizient zu halten.
Wir beobachten so gesehen ein Paradox: Einerseits wünschen wir uns die freie Lehre und die Möglichkeit dem Leistungsdruck zumindest an der Universität noch nicht vollständig ausgeliefert zu sein zurück, andererseits suchen wir nach mehr Orientierung in der beruflichen Selbstfindung. Doch freie Lehre wäre nur erstrebenswert, wenn der Bildung an sich wieder ein höherer Wert in der Gesellschaft zugestanden werden würde, anstatt zum dekorativen Bücherregal in materialsitischer Lebensweise zu verkommen. Die verlockenden Gadgets eines Start-Ups gelten heute als weitaus attraktiver als die jahrelange Auseinandersetzung mit Goethes Naturbegriff.
Die freigeistigen Wertevorstellungen, die an die Bildungseinrichtungen gehegt werden, können nie ohne unsere Werte im Alltag, in der Familie, im Berufsleben gedacht werden. Diese Widersprüchlichkeiten passen damit sehr gut in die Krise der Mittzwanziger, die vor lauter Möglichkeiten, die Substanz eines erstrebenswerten und erfüllten Lebens nicht mehr zu erkennen scheinen, während die älteren Generationen nur kopfschüttelnd vor ihnen sitzen und die Welt nicht mehr verstehen.
Bilder: Dragon Images/shutterstock.com
Das könnte dir auch gefallen:
Die Schatten der Akademisierung. Zwischen Planlosen und Fachidioten
Wer das Abi in der Tasche hat, muss nicht unbedingt studieren. Mutig ist auch, wer sich für einen anderen Weg entscheidet. Und dabei effizient plant.
Was zählt wirklich im Leben? Die Geschichte vom Blumentopf und dem Bier
Im Leben müssen Prioritäten gesetzt werden. Wichtig ist es, die richtigen Lebensbereich dafür zu wählen.
Bloß keine Zeit verlieren! Warum sich Studenten selbst zu viel Druck machen
Bloß keine Zeit verlieren, lautet die Devise für Studenten der Generation-Y. Warum du dir im Studium weniger Druck machen solltest, erfährst du im Magazin.